Freckenhorster Bürgerhaus

2005


Elisabeth Richter vom Malkasten Warendorf

Elisabeth Richter  "Äpfel"  2002, Foto: Günter Wintgens
Elisabeth Richter "Äpfel" 2002, Foto: Günter Wintgens

Einführungsrede zur Ausstellung von Elisabeth Richter

Freckenhorster Bürgerhaus, 2005

 

Gelegentlich zeigt die viel umstrittene Rechtschreibreform auch eine gute Seite, dann nämlich, wenn der Sinn eines Wortes durch die neue Schreibweise verdeutlicht wird. Das trifft zum Beispiel auf das Stillleben zu, das man – statt wie früher mit zwei – heute offiziell mit drei „l“ schreibt. Aufgeräumt wird dabei mit einem hartnäckigen Missverständnis, denn diese Bildgattung hat nichts mit Stil zu tun, wohl aber mit Stille, meint also tatsächlich das „stille Leben“ (der Gegenstände). Zurückzuführen ist diese Definition auf den Kunstschriftsteller Joachim von Sandrart, der Ende des 17. Jahrhunderts, im Goldenen Zeitalter der niederländischen Malerei, erstmals von „stillstehenden Sachen“ sprach, womit er die Darstellung und ästhetische Anordnung von Gegenständen meinte, ein Sujet, das damals zu großer künstlerische Blüte gelangte.

 

Natürlich haben sich Künstler zu allen Zeiten mit solchen Motiven befasst, man denke etwa an die antiken Mosaike, aber die alleinige Schilderung von Dingen, von Früchten und Blumen – ganz ohne Landschaft, ohne Figuren – ist relativ neu und kaum vor dem frühen 16. Jahrhundert nachzuweisen. Zu den großen, akademischen Aufgabenstellungen der Kunst hat das Stillleben dabei nie gehört, aber es wurde zu einem kostbaren, gefragten Kabinettstück, ja mehr noch: zu einem Medium intimer, malerischer Innovationen, so etwa in jüngerer Zeit bei Chardin, Cézanne oder Morandi, die gerade am Stillleben ihre bahnbrechenden Bildvorstellungen entwickelt haben.

 

Dass dieses Thema bis heute nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat, zeigt die Malerei von Elisabeth Richter. Seit 1994 besucht sie die Malschule von Günter Wintgens in Freckenhorst, unter dessen Anleitung sie im Laufe der Zeit zu ihrem eigenen Ausdruck, ihrem eigenen künstlerischen Interesse gefunden hat. Schon bald galt ihre Auseinandersetzung den Dingen des Alltags, einerseits aus dem klassischen Bereich der Lebensmittel, das heißt, wir sehen auf ihren Bildern zum Beispiel Äpfel, Paprikaschoten oder Zitronen, andererseits sind es aber auch Gebrauchsgegenstände aus dem Haushalt und dem Atelier, Gläser und Flaschen, Pinsel und Farbtuben, ein Korb oder ein Messbecher, ein Kescher, ein Stapel Zeitungen oder eine verchromte Kanne.

 

Auf den ersten Blick mögen viele ihrer Bilder wie zufällige Momentaufnahmen wirken, Situationen also, wie man sie im Alltag vorfindet. Das ist durchaus intendiert, und doch handelt es sich um sehr bewusste Anordnungen, die nach formalen, kompositorischen Aspekten getroffen werden – Anordnungen, die Elisabeth Richter zunächst anhand der Gegenstände im Original erprobt, die sie mitunter auch fotografisch festhält, bevor sie dann in Öl, Aquarell oder Tusche auf der Bildfläche ausformuliert werden. Ungeachtet von Technik und Format zeigt sich dabei eine Reihe von Besonderheiten, umso mehr, als diese Ausstellung erstmals einen Querschnitt durch ihr Schaffen der letzten fünf, sechs Jahre offeriert.

 

Da wäre zunächst ihre Vorliebe für An- und Ausschnitte, d.h. die Objekte werden stets aus nächster Perspektive und oft nur fragmentarisch, in Teilansichten dargestellt, gerade so, als wären sie mit der Kamera herangezoomt. Umso deutlicher treten dabei ihre spezifischen Eigenschaften zu Tage, die Beschaffenheit der Oberfläche, ihr Relief, die Wechselwirkung von Farbe, Licht und Schatten, die Verteilung von Fläche und Volumen auf engstem Raum, die jeweils neu über den spannungsvollen Zusammenhalt der Kompositionen entscheiden.

 

Da wäre weiterhin ihr besonderes Interesse an optischen Phänomenen zu nennen, das auch die Wahl der Gegenstände stark beeinflusst. Transparente Verpackungen zum Beispiel oder verchromte, spiegelnde Oberflächen, das Verhalten einer klaren Flüssigkeit in einem Gefäß – all das sind malerische Aufgabenstellungen, denen Elisabeth Richter sich mit Vorliebe widmet. Vor dem Hintergrund der jüngeren Kunstgeschichte kommen dabei zwei Bezüge ins Spiel: einerseits die Pop Art, die sich ganz bewusst mit banalen Gebrauchsgütern, zum Beispiel mit Produkten aus dem Supermarkt beschäftigt hat, um deren Kunstwürdigkeit zu behaupten; andererseits aber auch der amerikanische Fotorealismus, der bis heute insofern einer verbreiteten Fehleinschätzung unterliegt, als es ihm nicht etwa um absolute Wirklichkeitsnähe ging, sondern vielmehr darum, die Realität zu filtern und zu überhöhen, übrigens gerade mit Blick auf die optischen Erscheinungen der Dinge, zum Beispiel auf Spiegelungen oder Lichtbrechungen, wie sie durch transparente oder metallische Oberflächen entstehen.

 

Und das gilt ähnlich auch für die Malerei von Elisabeth Richter, denn auch ihr geht es nicht darum, die Dinge selbst so genau und akribisch wie nur möglich abzubilden; das nämlich kann der Fotoapparat im Ernstfall immer besser. Stattdessen liegt ihre Intention darin, Eindrücke und Atmosphären in die Malerei zu übertragen, im Sinne von Variationen und Dosierungen, wie man bei näherer Betrachtung ihrer Bilder etwa erkennen kann, dass sie über ganz verschiedene Ausdrucksmittel verfügt, von einem detaillierten Illusionismus bis hin zu fast abstrakten Passagen, wie sie zum Beispiel bei der Darstellung der Spiegelungen, der Stellflächen und Hintergründe zum Einsatz kommen.

 

Wenn eingangs vom „stillen Leben“ der Gegenstände die Rede war, dann ist das freilich nur die eine Seite. Die andere Seite, und das zeigen die Bilder von Elisabeth Richter, liegt in der Lebendigkeit der Darstellung selbst, in einem Prozess ständiger Verfeinerung, vor allem aber in der zunehmenden Präzision der Wahrnehmung, zu denen die Dinge den Maler, in diesem Fall: die Malerin bis heute immer wieder herausfordern. Letztlich, so kann man sagen, ist das ein Weg ohne Endpunkt, schon weil das Bild einer Zitrone immer etwas anderes bleibt als die Zitrone selbst. So banal diese Einsicht auch ist, so hat sie doch viel mit dem zu tun, was dem Stillleben an Reiz und Anziehungskraft bis heute innewohnt, nämlich: Annäherungen zu schaffen an scheinbar vertraute, unverdächtige Dinge des täglichen Gebrauchs, die doch gerade im Zustand der Malerei etwas von ihrer Kostbarkeit, ihrem „stillen Leben“ bewahren.

 

Stefan Rasche